Sehr geehrte Damen und Herren
In den vergangenen 25 Jahren konnten wir am US-Aktienmarkt drei markante Phasen beobachten, in denen die Bewertungen weit über das langfristige Durchschnittsniveau hinausgingen.
Die erste Phase war rund um das Jahr 2000 – während der Dotcom-Blase. Die zweite trat 2021 auf und wurde häufig als „Everything Bubble“ bezeichnet. Und nun, kaum drei Jahre später, stehen wir erneut vor einer Situation, in der das Bewertungsniveau von vielen Marktteilnehmern als überzogen eingestuft wird – diesmal unter dem Stichwort „KI-Blase“.
In allen drei Fällen lag das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) auf Basis der erwarteten Gewinne der kommenden 12 Monate (Forward-KGV) bei über 22 – und das trotz sehr optimistischer Gewinnerwartungen. Zum Vergleich: Der langfristige Durchschnitt des US-Marktes liegt bei einem Forward-KGV von rund 16.
Im Jahr 2021 wurde das Bewertungsniveau noch durch das Argument „TINA“ (There is no alternative) gestützt – es gab schlichtweg keine attraktive Alternative zur Aktie. Heute ist das anders: Zehnjährige US-Staatsanleihen rentieren aktuell mit über 4,4 % p.a. und bieten damit erstmals seit Jahren eine reale Alternative – sie werfen sogar mehr ab als die durchschnittliche Gewinnrendite des Aktienmarkts.
Trotzdem erleben wir aktuell nie dagewesene Kapitalzuflüsse in den US-Aktienmarkt. Diese übertreffen sogar die historischen Rekordwerte des Jahres 2021. Seit dem Wahlsieg von Donald Trump haben sich diese Zuflüsse nochmals beschleunigt.
Die Aktienquote vieler US-Investoren liegt inzwischen so hoch wie zuletzt zur Zeit der Dotcom-Blase. Anleihen und Cash werden vielfach ignoriert – obwohl sie mittlerweile durchaus attraktive Renditen bieten. Ein Blick auf die Bewertungen verschiedener Länder zeigt: US-Aktien sind klar am teuersten – selbst dann, wenn man die grossen Technologiewerte herausrechnet.
Diese Entwicklung ist eng mit der derzeit ausgesprochen optimistischen Anlegerstimmung verbunden. Denn ohne diesen Optimismus wären derart hohe Bewertungen kaum durchsetzbar. Gemäss aktuellen Umfragen des US Conference Board gehen mehr Anleger als je zuvor von weiter steigenden Kursen aus. Ein bemerkenswerter Wandel gegenüber dem Tiefpunkt Ende 2022 – damals herrschte breite Skepsis.
Es zeigt sich: Die Stimmung folgt dem Markt. Anleger neigen zu prozyklischem Verhalten. Oder, um es mit Warren Buffet zu sagen:
„Sei gierig, wenn andere ängstlich sind – und ängstlich, wenn andere gierig werden.“
Buffet selbst hat in den vergangenen Quartalen seine Positionen bei Apple deutlich reduziert. Der Bewertungsmultiplikator des Unternehmens stieg von einem KGV von 11 im Jahr 2018 auf rund 30 – obwohl der Nettogewinn seit 2021 kaum gewachsen ist.
Letztlich speisen sich Kursanstiege langfristig immer aus zwei Komponenten:
-
Wachstum der Unternehmensgewinne
-
Veränderung der Bewertung (Expansion oder Kontraktion des KGV)
Ein Blick zurück ins Jahr 2009: Nach der globalen Finanzkrise wurde der S&P 500 mit einem KGV von etwa 9 gehandelt – Ausdruck tiefen Pessimismus. Viele Anleger hatten in den Jahren zuvor massive Verluste erlitten, das Vertrauen in Aktien verloren oder sich gänzlich aus dem Markt zurückgezogen.
Doch in der Folge erholten sich sowohl die Gewinne als auch die Bewertungen – unterstützt durch expansive Geldpolitik und historisch tiefe Zinsen. Das Bewertungsniveau erreichte 2021 schliesslich ein Niveau, das historisch nie dauerhaft haltbar war. Mit steigenden Zinsen platzte die Überbewertung vieler Tech-Werte, die Märkte fielen bis Ende 2022 auf ein normaleres Bewertungsniveau zurück.
Dann kam die Veröffentlichung von ChatGPT – der Startschuss für eine neue Welle von KI-Euphorie. Und mit dieser neuen Story begannen Bewertungen erneut stark zu steigen. Manche sprechen heute offen von einer neuen Blase.
Als ich Ende 2022 bzw. Anfang 2023 begann, Aktienpositionen aufzubauen, war ich zuversichtlich, dass man bei vernünftiger Bewertung und pessimistischer Marktstimmung langfristig wieder solide Jahresrenditen zwischen 6 und 9 % erwarten könne.
Nicht gerechnet hatte ich allerdings mit der Geschwindigkeit, mit der die Märkte erneut in ein Überbewertungsniveau geklettert sind – ein Niveau, das historisch nie dauerhaft Bestand hatte.
Ein wesentlicher Grund für diese Dynamik ist die Struktur der Kapitalflüsse: ETFs, also passive Indexfonds, investieren regelbasiert – unabhängig davon, ob Aktien günstig oder teuer sind. Die Mittelzuflüsse fliessen damit bevorzugt in grosse Unternehmen mit hohem Indexgewicht – was bestehende Trends weiter verstärkt.
Hinzu kommt: Viele Neuinvestoren, darunter auch weniger erfahrene Privatanleger, dominieren zunehmend das Handelsvolumen. Sie orientieren sich stark an Trends und suchen nach „dem nächsten Hype“. Professionelle Akteure wie Hedgefonds und High-Frequency-Trader beobachten deren Verhalten genau – und versuchen, diese Bewegungen vorwegzunehmen, indem sie dieselben Aktien früher kaufen und mit Aufpreis weiterverkaufen.
Dieses Momentum funktioniert – bis es nicht mehr funktioniert. Sobald der Trend kippt, bleiben oft nur überbewertete Aktien zurück, die dann massiv fallen.
Zudem erleben wir eine Renaissance spekulativer Derivate: Call-Optionen auf Einzelaktien, gehebelte Produkte auf Indizes und Einzeltitel – vielfach kreditfinanziert. Teilweise übersteigt das Handelsvolumen dieser Produkte sogar jenes der zugrunde liegenden Aktien. Der berühmte „Schwanz wedelt mit dem Hund“.
In Teilen wirkt der Markt mehr wie ein Casino als wie ein Ort für langfristige Unternehmensbeteiligungen. Kein Wunder also, dass Warren Buffet und sein Team bei Berkshire Hathaway sich zunehmend aus dem Markt zurückziehen.
Der S&P 500 hat inzwischen sogar die optimistischsten Analystenerwartungen für das Jahresende hinter sich gelassen. Ob wir uns bereits in einer Blase befinden, lässt sich schwer mit letzter Sicherheit sagen. Doch wenn Anleger bereit sind, das 22-fache der erwarteten Jahresgewinne zu zahlen – warum nicht auch 23 oder 24?
Jeder weitere Kursanstieg erscheint mir derzeit wie vorgezogene Rendite, die man sich heute nimmt – und morgen womöglich teuer bezahlt.
Daher habe ich die Kundenportfolios nun wieder defensiver positioniert – ähnlich wie bereits im Zeitraum von 2021 bis Ende 2022.
Ein Blick nach Europa
Vor dieser Marktlage stehen Anleger aktuell vor einer grundlegenden Entscheidung:
-
Investieren sie in US-Aktien, kaufen sie in der Regel Titel mit hoher Bewertung und Rekordmargen. Doch Margen auf Allzeithoch sind häufig das Ergebnis eines reifen Zyklus – und dieser endet typischerweise mit fallenden Gewinnen, etwa durch steigende Löhne, Wettbewerb oder neue Regulierung.
-
In Europa dagegen notieren viele Aktien auf deutlich tieferem Bewertungsniveau. Die dortige Schwäche in Konjunktur und Unternehmensgewinnen spiegelt sich in den Kursen bereits wider – was wiederum Potenzial für Aufwertung bietet, sobald eine wirtschaftliche Erholung einsetzt.
Ein Beispiel:
-
Ein US-Techunternehmen erwirtschaftet 1 Mrd. USD Gewinn und wird mit einem KGV von 30 bewertet – also 30 Mrd. USD Marktkapitalisierung. Sinkt der Gewinn, fällt der Kurs oft stark.
-
Ein europäisches Industrieunternehmen erzielt 200 Mio. EUR Gewinn und wird mit einem KGV von 10 bewertet – also 2 Mrd. EUR. Sollte sich die Gewinnlage verbessern, ergibt sich erhebliches Potenzial für eine Neubewertung nach oben.
Zusätzlich bieten europäische Aktien deutlich höhere Dividendenrenditen: Der EuroStoxx600 liegt aktuell bei rund 2,7 % – mehr als doppelt so hoch wie der S&P 500.
Während US-Aktien auf Bewertungsrekorden mit Margen auf Höchstniveau handeln, erscheinen europäische Titel günstig bewertet – mit attraktivem Renditepotenzial im Fall einer Normalisierung der Unternehmensgewinne.
Der Bewertungsunterschied ist historisch: Europäische Aktien sind im Schnitt 36 % günstiger als ihre US-Pendants – und das branchenübergreifend. Besonders attraktiv erscheinen kleine und mittelgrosse Unternehmen, die gegenüber den grösseren Titeln nochmals einen Bewertungsabschlag aufweisen.
In den USA werden hohe Erwartungen an dauerhaftes Wachstum in die Kurse eingepreist. In Europa dagegen wird eher das Gegenteil angenommen – ein Fortbestehen der Schwäche. Diese Diskrepanz schafft selektive Chancen.
Der EuroStoxx600, das europäische Pendant zum S&P 500, liegt seit Jahresbeginn bei +4,96 %. Enthalten sind hier Schwergewichte wie ASML, LVMH, SAP, Allianz oder Nestlé – aber auch zahlreiche mittelgrosse und kleinere Unternehmen. Die Kombination aus günstiger Bewertung und solider Dividendenrendite macht diesen Markt für langfristige Investoren interessant.
Bei Fragen oder Gesprächsbedarf stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüssen
Pascal Alain Reinau